Die Ukraine und die Nato: Weder drinnen noch ganz draußen

Beim Nato-Gipfel in Vilnius wird es auch darum gehen, die Ukraine noch enger an die Allianz zu binden

  • René Heilig
  • Lesedauer: 6 Min.

Wenn sich am kommenden Dienstag und Mittwoch die Staatschefs der Nato-Staaten sowie die zuständigen Minister zum Gipfel im litauischen Vilnius treffen, werden deutsche »Patriot«-Staffeln einen Schirm über das Meeting gespannt haben. Die Flugabwehr-Raketen, die bislang in der Slowakei und in Polen standen, wurden weiter »nach vorne« verlegt. Sicher ist sicher – man weiß ja nie, welche Ausmaße der seit über 16 Monaten in der Ukraine tobende russische Angriffskrieg noch annimmt, scheint die Logik hinter dem Vorgehen zu lauten. Auch die von Deutschland geführte und im litauischen Rukla stationierte multinationale »Enhanced Forward Presence Battlegroup« ist einsatzbereit. Sie wird künftig von einer deutschen Kampfbrigade ergänzt. Das, so hatte Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) mehrfach in Richtung der Nato verlautbaren lassen, zeige erneut: »Wir sind da, wenn man uns braucht. Auf Deutschland ist im Bündnis Verlass.«

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Wenn dem tatsächlich so sei, sollte Deutschland alles unterlassen, was eine sofortige Aufnahme seines Landes in die Nato verzögere, sagte der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba vor einer Woche mehreren deutschen Zeitungen. Die Bundesregierung dürfe nicht den Fehler wiederholen, den Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) im Jahr 2008 begangen hätte, »als sie heftigen Widerstand gegen jeden Fortschritt für die Nato-Mitgliedschaft der Ukraine leistete«. Dass Merkel zusammen mit dem damaligen französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy Forderungen anderer Nato-Partner nach einem raschen Beitritt der Ukraine und Georgiens blockierte, habe den russischen Angriff auf Georgien im Jahr 2008 sowie die Annexion der Krim-Halbinsel im Jahr 2014 und die aktuelle Eskalation erst ermöglicht. Kuleba betont: Der einzige Weg, um die russische Aggression gegen Europa und den europäisch-atlantischen Raum insgesamt zu unterbinden, bestehe in der Aufnahme der Ukraine in die Nato.

Eine Übereinkunft zum Beitritt der Ukraine beim Gipfel in Vilnius zu erreichen, ist kaum denkbar, weil die Allianz dann – gemäß Artikel 5 des Nato-Vertrages – über Nacht zur Kriegspartei würde. Die Nato will keine Konflikte und schon gar keine Kriege importieren. Man stellte sich zwar Monat für Monat fester an die Seite der Ukraine und sicherte dem Land so das Überleben, doch die Allianz vermied es peinlich genau, direkt in einen Krieg mit der Atommacht Russland hineingezogen zu werden. So soll es auch bleiben. Unter diesen Gesichtspunkten ergibt es auch keinen Sinn, über zeitliche Vorgaben für einen Beitritt zu reden, denn es ist nicht absehbar, dass der mörderische Krieg demnächst endet.

Hilfsweise blockieren Deutschland und andere Regierungen innerhalb der Allianz Aufnahmewünsche mit dem Hinweis, Kiew müsse – das ist nicht neu – erst einmal wesentliche demokratische Reformen umsetzen. Dazu gehören die Korruptionsbekämpfung sowie die weitere technische Umsetzung von Nato-Standards. Ganz obenan steht dabei der Geheimschutz. Die Fragen sind lösbar, die Nato hat es – siehe Türkei – ohnehin nicht so sehr mit demokratischen Grundrechten.

Dennoch wird Kiew im Abschlussdokument von Vilnius eine Formulierung lesen wollen, die sich als Angebot zu einer Art beschleunigtem Aufnahmeverfahren deuten lässt. Dabei könnte man sich an dem vereinfachten Prozedere orientieren, mit dem man Finnland und Schweden den roten Teppich ausgerollt hat. Neue Waffenlieferungen wird der Nato-Gipfel nicht beschließen, derartige Fragen hat man bewusst in das sogenannte Ramstein-Format ausgelagert. Was also kann man der Ukraine, deren Präsident Wolodymyr Selenskyj beim Nato-Gipfel anwesend sein wird, anbieten?

Bereits Ende Juni hat man die bestehende Nato-Ukraine-Kommission zu einem Nato-Ukraine-Rat und die Ukraine zu einem stimmberechtigten Land bei allen in dem speziellen Gremium verhandelten Fragen aufgewertet. Der Rat, dessen Arbeit sich am gescheiterten Nato-Russland-Rat orientiert, wird in Vilnius zum ersten Mal zusammentreten und Arbeitsgruppen bilden – das Medienecho ist enorm.

Die Idee steht schon seit vergangenen Herbst im Raum. Sie entstand als Andryj Jermak – einer der wichtigsten Berater des ukrainischen Präsidenten – und der ehemalige Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen die Köpfe zusammensteckten. Die beiden haben noch mehr vor. Diese Ideen werden in Vilnius offiziell natürlich nicht besprochen, aber am Rande des Treffens umso intensiver debattiert werden.

Jermak und Rasmussen haben unter anderem in den Geschichtsbüchern gekramt und ein Beispiel gefunden, wie die Ukraine schrittweise in die Nato gelangen könnte. 1955 trat die Bundesrepublik dem Bündnis bei, obwohl sie nach eigener Auffassung nicht ganz Deutschland repräsentierte. Die Bonner Republik akzeptierte völkerrechtlich weder den anderen deutschen Staat noch die gemeinsame Grenze mit der DDR. Auch von den ehemaligen deutschen Ostgebieten wollte Bonn nicht lassen.

Damals stellte die westliche Militärallianz klar, dass der allgemeine Beistandsartikel fünf des Nato-Vertrages nur für den Teil Deutschlands gelte, der BRD-Gebiet war. Warum nicht wiederholen, was sich jahrzehntelang im Kalten Krieg bewährt hat? Weil in der Ukraine kein kalter, sondern ein heißer und extrem opferreicher Krieg tobt, bei dem die Fronten sich stündlich verschieben, so Kritiker, die die Idee für höchst gefährlich halten.

Natürlich soll die vollständige Wiederherstellung der territorialen Integrität der Ukraine und der Abzug aller russischen Truppen ein Hauptziel bleiben, das auch vom Nato-Gipfel bekräftigt werden wird. Doch um das Völkerrecht im Osten Europas wieder in Kraft zu setzen, braucht es mehr – also eine neue Vision von Entspannungspolitik und möglichen Schritten zu ihrer Umsetzung. Denn es kann nicht das Ziel deutscher, europäischer oder transatlantischer Sicherheitspolitik sein, dass die Nato sehenden Auges in einen dauerhaften Konflikt mit der Nuklearmacht Russland einsteigt, der jederzeit in einem – diesmal globalen – Krieg münden kann. Auch sollte man nicht darauf hinarbeiten, dass Russland implodiert. Der dabei entstehende Sog würde zahlreiche Staaten und Volkswirtschaften mit sich reißen.

Angesichts der blutigen Kämpfe klingt es utopisch – doch die Nato müsste endlich damit beginnen, Optionen für eine neue Art von Sicherheitsverantwortung zu debattieren und zu überlegen, wie man Moskau dafür ins Boot holen kann. Vielleicht mit der Aussicht auf eine neue Grundakte, die – den Rückzug Russlands aus den eroberten Gebieten vorausgesetzt – Besonderheiten einer ukrainischen Nato-Mitgliedschaft festschreibt. Ein Verzicht auf die Stationierung westlicher Atomwaffen sowie ausländischer Truppen auf ukrainischem Territorium wäre ein mögliches Angebot. Neu ist diese Idee nicht. Ähnliches wurde in Wendezeiten debattiert, doch dann vom Westen verworfen. Das Ergebnis dieser verpassten Chancen zeigt sich derzeit.

Beim Nato-Gipfel könnten wichtige Weichen gestellt werden – kurzfristig für die weitere militärische Stärkung der Ukraine, mittelfristig für eine Beendigung des russischen Angriffskriegs und längerfristig für die Errichtung einer stabileren gesamteuropäischen Sicherheitsarchitektur. Doch es ist nicht zu erwarten, dass man in Vilnius über bisherige kurzfristige machtpolitische Beschlüsse hinauskommt. Für die Aufnahme Schwedens sehen Experten eine geringe Chance, falls es gelingt, die Machthaber aus Ankara und Budapest gnädig zu stimmen – durch Zugeständnisse in anderen Fragen. Die Sicherung des wachsenden Finanzbedarfs für Militär und Rüstung wird dagegen gelingen. Sicherlich wird auch das Ziel, dass alle Mitgliedsstaaten zwei Prozent ihres Bruttoinlandsproduktes fürs Militär ausgeben, in Vilnius fortgeschrieben.

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